Verwundetheit

Aus Siebel/Winkler “Noosomatik” Band I: 1.5.9. Zur Problematik der "Verwundetheit-an-sich"

* (siehe auch 6. Kapitel: "Das Nacherleben einer Verwundungserfahrung: Die Analogie" und dort: Die Analogie der Verwundetheit an sich)

Das Angebot der Widerfahrnisse von "leben" orientiert uns so, dass wir nicht ständig feststellen und ganz bewusst beobachten müssen, wie wir es annehmen. Das, was häufig zu schaffen macht, ist die Einfachheit dieses einen intellektuellen Aktes, der nötig ist, um genau das mitzubewirken, wonach wir uns doch angeblich sehnen.

Die Frage, weshalb dieses Einfache (das "Ja" zum Augenblick und damit das Ja zum eigenen Widerfahrnis von "leben") auch leider so einfach zu behindern und zu unterbrechen ist, führt uns zu dem Thema der Furcht zurück, zu diesem Phänomen in der perinatalen Zeit unmittelbar nach der Geburt, und damit zu dem Phänomen des Verwundetseins-an-sich.

Wir können Verwundungen inhaltlich beschreiben, mit Lebensstilbildern versehen etc., wir können sie physiologisch beschreiben, wir können über Syndrome zu ihnen vorstossen, je nachdem, was jetzt für die Selbsterkenntnis am wichtigsten und schnellsten geht. Die Tatsache, dass wir überhaupt verwundet worden sind, ist eine Tatsache, die nonverbal in uns existent ist. Sie ist in eine Art von Sprachlosigkeit verpackt, die gerade diese Verwundetheit-an-sich ausdrückt, so paradox das klingen mag.

Wir können beobachten, dass bei allerlei schönen Dingen, die wir erleben, trotzdem auf einmal doch wieder diese Furcht im Raume ist, in uns selbst, wie wir plötzlich wieder gebremst reagieren. Wie sogenannte Rückfälle uns beuteln und schütteln. Dieses jammervolle "schon wieder" oder "ich schaff' das nie" oder "da komm' ich ja nie raus" - und ähnliche Versprechen für die Zukunft - zeigen das Bemühen, etwas in Sprache umzusetzen, was unausdrückbar scheint und im gewählten Jargon das unterbewusste System dann doch wieder stützt. Jedes Wort dazu ist ohne inhaltliche Beziehung zu dem, was wir in dieser Verwundetheit erlebt haben. Die Tatsache, verwundbar zu sein, der Sachverhalt, verwundet worden zu sein, lässt sich durch kein Wort ausdrücken. Wie wollen wir das, was wir ganz subjektiv, individuell, empfinden, in Wörter fassen, die weiter transportierbar und möglicherweise auch verstehbar sein sollten für andere?

Sind wir denn in der Lage, uns selbst darüber zu verstehen? Sind wir in der Lage, zu akzeptieren, dass wir Verwundete sind, unabhängig davon, welchen Lebensstil, welche Verwundung wir haben? Wollen wir, dem Mythos von den natürlichen Defiziten folgend, behaupten, dass es ein Defizit bedeute, dass wir wegen unserer Fähigkeit zu fühlen verwundbar sind? Oder sind wir bereit zu sagen, dass das gerade die Stärke unserer Menschlichkeit erweist, dass da, wo wir einen Schmerz empfinden, wir auch wissen, dass wir fühlen können und dass wir auch wissen, was gerade wirklich passiert ist.

Es ist notwendig, gerade an jenen Stellen eine Sprache für uns selbst zu entwickeln, die diese Phänomene, die wir da empfinden, uns sprachlich verbal so deutlich vor Ohren führen, dass wir dann damit umgehen können, dass wir dadurch die angemessene Benennung so praktizieren, dass Geborgenheit als Empfindung möglich wird; dass wir das Ja-sagen zur eigenen Menschlichkeit für uns selbst ganz alleine fühlen können oder auch dieses "in diesem 'leben' sich richtig fühlen".

Es ist möglich, sich selbst ein paar freundliche Worte zu gönnen, eine Beschreibung der Widerfahrnisse, so dass wir dann in der Lage sind, von der Verwundung wegzuschauen; denn je mehr wir uns auf das konzentrieren, was uns weh tut oder auf das, was uns an Übel widerfährt, von irgendwelchen bösen Menschen z.B., je mehr wir uns darauf konzentrieren, desto mehr bringen wir uns aus der Wahrnehmung unserer Eigenheit als selbständige Menschen heraus; um so mehr machen wir uns abhängig vom Wohlwollen anderer. Ist es nicht dann einfacher und energiesparender, ganz nebenbei, eine eigene Sprache für sich selbst zu entwickeln, die, wie ich eben sagte, uns selbst ein paar freundliche Worte des Verstehens gönnt?

Solange wir dieser Verwundetheit so gegenüber stehen, als sei sie tatsächlich unsere eigene Schuld, als sei sie ein Makel, als sei sie Folge unseres persönlichen Versagens, als erweise sie uns als defizitär - solange wir das meinen, erklären wir unsere Erzieher für schuldig, und das steht uns in keiner Weise zu. Und: gleichzeitig machen wir uns abhängig von Erlösungsideen, die wir in der Kindheit entwickelt haben.

Diese Erlösungsideen sind dann sehr produktiv: Männer warten auf die Göttin, Frauen warten auf den Prinzen - allesamt denken wir dann eben doch: "Ich schaffe das alles nicht alleine." Und dann werden ganz konkrete Vorstellungen entwickelt, wie dieser konkrete Mensch sich zu verhalten habe, damit wir uns wohlfühlen.