Individuum

Siebel/Winkler: Noosomatik Bd. I. 13. Kapitel: Der Mensch als Individuum

3.13.1. Jeder Mensch ist eine unteilbare Einheit aus Leib, Seele und Geist.

3.13.1.1. Der Mensch ist immer ein Mensch; er ist einer und in-dividuum, unteilbar. Er ist nicht weniger und nicht mehr.

3.13.1.2. Der Mensch ist eine Person und als solche eine Einheit. Diese Einheit ist Garantin der Würde des Individuums.

3.13.1.3. Die sprachliche Aufteilung der unteilbaren Einheit in Leib, Seele und Geist ist eine Hilfskonstruktion, um die Vielschichtigkeit der Lebensäusserungen eines Menschen überhaupt verstehen zu können, da wir nicht in der Lage sind, alle Erfahrungen und Wahrnehmungen gleichzeitig auszusprechen.

3.13.1.4. Selbst wenn wir vom Leib oder von der Seele oder vom Geist eines Menschen sprechen, sprechen wir immer von der einen Person - und deshalb auch von der vierten Dimension des Sinns. Ohne diese Dimension bleibt jede Ganzheitstheorie anfällig für Ideologien.

3.13.2. Als Bild für die Unteilbarkeit des Menschen gebrauche ich den Begriff Persönlichkeitskern. Er weist nicht nur auf eine Einheit, er weist auch auf eine Ganzheit.

3.13.2.1. Ein Mensch ist immer derselbe Mensch, eins und ganz, und kann niemals mit einem anderen oder mehreren anderen Menschen einen neuen Menschen bilden: eine "Kernfusion" ist ausgeschlossen.

3.13.2.2. So ist jeder Mensch unverwechselbar, einzigartig und nicht wiederholbar; er ist immer etwas Neues, ein ganz anderer gegenüber allen anderen Menschen, die je gelebt haben, leben oder noch leben werden.

3.13.2.3. Als Ganzheit bedeutet der Persönlichkeitskern immer mehr als Leib, Seele oder Geist, so wie der Mensch immer auch mehr ist als Leib oder Seele oder Geist.

3.13.3. Der Mensch ist nicht nur Einheit und Ganzheit, sein Persönlichkeitskern stiftet, wirkt und konstituiert geradezu diese Einheit und Ganzheit aus Leib, Seele und Geist.

3.13.3.1. Leib, Seele und Geist verstehe ich als Organe des Persönlichkeitskerns, mit deren Hilfe ein Mensch die Einheit und Ganzheit immer wieder neu zur Darstellung bringt, ihnen Geltung verschafft und darin aktiv und selbstentscheidend die Widerfahrnisse von "leben" mitgestaltet.

3.13.3.2. Der Persönlichkeitskern des Menschen ist nicht etwas, das für sich allein existiert, evtl. gar lokalisierbar wäre; er ist das gedachte Bild der Projektion der Bündelung aller Lebensäusserungen, also auch seiner Seinsweisen, auf den Sinn seiner Einheit und Ganzheit hin.

3.13.3.3. Der Persönlichkeitskern "ist" das, was den Menschen überhaupt erst zum Menschen macht, ihn existieren lässt.

3.13.3.4. Der Begriff Persönlichkeitskern fasst also im Bilde die Aussagen über Einheit und Ganzheit zusammen.

3.13.3.5. Leib, Seele und Geist sind bestenfalls Dimensionen des Menschen. Der Mensch setzt sich nicht aus ihnen zusammen. Solch eine Formulierung verstiesse logisch gegen den Gedanken der Einheit und Ganzheit. Der Mensch setzt sich immer auch mit sich selbst auseinander, und das auf vielfältige Weise.

Die Regionen dieser Auseinandersetzungen (ihre Dimensionen, ihre Schichten) fassen wir in den Begriffen Leib, Seele und Geist zusammen.

3.13.4. Der Mensch ist ein Mensch. In diesem Sein erfährt er sich als lebendig. In dieser Lebendigkeit erkennen wir Dynamik, auch wenn er sich im Augenblick des Erkennens in der Statik (Ruhe) fühlt.

3.13.4.1. In einem Augenblick ist der Mensch nicht mehr so, wie noch im Augenblick zuvor. Die scheinbare Wiederholung einer Aktion des Menschen ist immer eine andere Aktion als die, mit der wir sie verglichen haben und sie deshalb als Wiederholung beurteilen.

Eine solche Beurteilung wäre also ein "Vorurteil" (Vorausurteil), das nur in den Sinnzusammenhang des so Urteilenden gehört und niemals dem Beurteilten oder seiner Aktion gerecht zu werden vermag.

3.13.4.2. Die Dynamik des Menschen ist in die allgemeine Bewegung der Widerfahrnisse von "leben" - aus einer Vergangenheit in eine Zukunft - hineingestellt, und zwar so, dass der Mensch Ziel, Richtung und Energieaufwand selbst entscheidet - unabhängig davon, ob er dies bewusst oder unbewusst tut.

3.13.4.3. Diese Dynamik macht die Vitalität des Menschen aus, ist also lebensnotwendig und mit seiner Zeugung mitgegeben. Sie ist geradezu ein "Muss", das einzige seiner Existenz. Alle anderen Lebensäusserungen sind durch die Kategorien wollen, können, sollen und dürfen zu beschreiben.

3.13.4.4. Dieses "Muss" auch bewusst zu wollen, macht die Freiheit des Menschen aus. In ihr leuchtet die Fülle der Ganzheit und Einheit und Dynamik des Menschen auf.

3.13.4.5. Die Notwendigkeit, mit der Dynamik umzugehen, fordert Entscheidungen heraus. Menschsein ist "entscheidendes Sein" (Karl Jaspers). Hierin liegt keine Freiheit. Der Mensch muss sich im Hinblick auf Ziel, Richtung und Energie entscheiden. In der Entscheidung jedoch wird Freiheit sichtbar, als Freiheit für; darin, dass er sich für etwas (und damit auch immer für etwas anderes) entscheiden kann.

Das Widerfahrnis der Primäridentität stellt die pathische Kategorie "leben" dar: Leben als Substantiv ist eine Abstraktion, die so tut, als habe "leben" ein eigenes Subjekt.

3.13.5. Der Mensch ist immer, solange er lebt, der von den Widerfahrnissen von "leben" herausgeforderte Mensch. Darin weist er in seiner Existenz immer schon über sich selbst hinaus auf die der Existenz vorgeordnete Wahrheit des Sinns seines Seins.

3.13.5.1. Da die Dynamik des Menschen in die allgemeine Bewegung der Widerfahrnisse von "leben" hineingestellt ist (hier oben 3.13.4.2.), ist es also die Gelebigkeit selbst, das ihn herausfordert, Entscheidungen zu treffen.

Der Begriff "Gelebigkeit" sagt mehr als das Wort "Lebendigkeit". Er achtet das Widerfahrnis von "leben" und gibt diesem kein eigenes Subjekt (wie das Nomen "Leben"), das, mit eigener Willkür ausgestattet, vorzugeben scheint, den Menschen auch unzulässig begrenzen zu können.

Die Gelebigkeit wagt die Regeneration, sie löst die Weise (den Modus), wie z.B. ein Mensch Mensch sein darf/soll/kann.

Die Erfahrung zeigt uns, wie wenig der Bedarf an Regeneration tatsächlich vom Menschen respektiert wird. Und dennoch: Kein Mensch stirbt sofort, wenn er seine Regenerationsnotwendigkeit einmal vernachlässigt: Die Gelebigkeit erhält die Existenz so lange, wie sie nicht selbst Gegenüber einer Aggression wird.

3.13.5.2. So können wir jeden Augenblick der Widerfahrnisse von "leben" als Gabe dieser Widerfahrnisse verstehen. Wir haben keinen Anspruch darauf, da wir ja auch mit den anderen Lebewesen die Gegebenheit dieser Widerfahrnisse gemeinsam haben. Wir wurden nicht gefragt, ob wir leben wollten (wie hätte das auch geschehen sollen?).

3.13.5.3. Die Gabe der Widerfahrnisse von "leben" ist so zwingend, dass sie angenommen werden muss oder nur durch einen aggressiven Akt abgelehnt werden kann. Letzteres ist allerdings erst möglich, wenn bereits einmal eine solche Gabe angenommen wurde!

3.13.5.4. Jedes Widerfahrnis von "leben" ist es also selbst, das den Menschen herausfordert, die Gabe des Augenblicks bewusst anzunehmen und Antwort zu geben auf die Frage, was denn nun vom Menschen als Antwort zu erwarten sei (Viktor Frankl). Die Gestaltung des Augenblicks ist immer Antwort auf diese Frage. So ist Menschsein (ver)antwortendes Sein.

3.13.5.5. Der Mensch ist dadurch, dass "leben" nach ihm gegriffen hat. Lebt er, weist er stets über sich hinaus auf diesen "Griff" der Gelebigkeit und damit auf den nicht aussagbaren Ursprung, den wir im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch z.B. auch mit der Chiffre "Gott" bezeichnen. So ist unsere Antwort auf die Frage der Widerfahrnisse von "leben" Enthüllung unserer Welt-Anschauung, bewusste oder unbewusste.

Die Rede vom toten oder nichtexistenten Gott ist selbst wieder religiöse Rede, nur mit anderem Inhalt. Den Inhalt der Religionen nennen wir zwar Glaube, in bezug auf den Menschen Gläubigkeit. In Wahrheit ist der Begriff Glaube immer mit dem genuinen Gefühl der Gewissheit verbunden, insofern er den Inhalt der Relation zwischen unserer Existenz und unserem Sein meint, also die Möglichkeit, unsere Existenz auf unser Sein zu beziehen (und nicht z. B. auf eine wie auch immer geartete Nützlichkeit). Ich "glaube" kann niemals ein Synonym für "ich vermute" sein, wie es der Volksmund oft fälschlicherweise meint.

3.13.5.6. Der Mensch weist in jedem Augenblick auch immer auf die möglichen Augenblicke seiner Zukunft hin und dadurch auch immer gleich auf Ziele und auf die Sinnhaftigkeit seiner Existenz; ob er es merkt oder wahrhaben will oder nicht. Unterbewusste und bewusste Entscheidungen gewinnen immer Gestalt in der gestalteten Antwort auf die Herausforderung (Frage) der Widerfahrnisse von "leben".

3.13.5.7. Weist der Mensch auf seine Zukunft hin, weist er überhaupt auf Zukunft hin. Zeit selbst lässt sich so vom Menschen nur deshalb "anschauen", weil sie selbst über sich hinaus auf die Ewigkeit weist. Nur so hat der Mensch Gegenwart, dass er sich gleichsam aus der Zeit heraushebt, so wie er auch die Möglichkeit hat, sich von sich selbst zu distanzieren, um sich selbst betrachten zu können. Menschsein ist also transzendiertes Sein; und nur dadurch kann der Mensch seiner selbst gewiss sein.

Gegenwart können wir nur begreifen als den Augenblick, in dem Zukunft Vergangenheit wird: Und das ist der Raum, den die Gegenwart hat, in den unsere Gefühle fliessen können, um uns in diesem Raum lebendig und in unserer Personhaftigkeit als richtig zu erleben.

3.13.6. Das, was den Menschen wesentlich von allem Nichtmenschlichen unterscheidet, ist seine geistige Dimension, mit der er Wirklichkeit erfassen und mitgestalten kann.

3.13.6.1. Die Organe des Persönlichkeitskerns (Leib, Seele und Geist) können nicht ohne einander sein, auch wenn ihnen unterschiedliche Funktionen eigen sind. Doch das Wesentliche am Menschen ist der Geist selbst. Er ist in der Lage, das Bewusstsein von der Einheit so zu erlangen, dass ihre "Teileinheiten" im Sinne ihrer Zugehörigkeiten gedeutet und verstanden werden können.

3.13.6.2. Die Erfahrung zeigt uns, dass es Gemeinsamkeiten zwischen Tier und Mensch, aber auch unleugbare Unterschiede gibt. Bedürfnisse hat wie das Tier auch der Mensch (siehe den Begriff Instinkt). Doch allein der Mensch ist fähig, ordnend in seine Umwelt eingreifen zu können; Bedürfnisse selbständig zu steuern; sich Ziele zu setzen und sie auch zu verfolgen: Er allein ist fähig, Sinn zu erkennen und Zusammenhänge zu erfassen, die über das Leibliche und das Seelische hinausgehen.

3.13.6.3. Durch die Dimension des Geistes ist der Mensch fähig, in allem mehr zu sehen als nur das Augenscheinliche, in allem den Bezug zu sich selbst zu sehen und wieder: einen Sinn zu erkennen.

3.13.6.4. So haben wir im Menschlichen immer noch mehr zu sehen als das, was wir gerade sehen, also mehr als das, wie es sich gerade aktualisiert: Der Mensch ist immer mehr als das, was er gerade tut oder was an ihm geschieht. Er ist immer auch noch etwas anderes.

So lautet die These:"Jeder Mensch ist immer auch noch anders als so, wie wir ihn gerade erleben."

3.13.6.5. Der Wert eines Menschen ist unabhängig von wie auch immer zu definierender Nützlichkeit. Er ist mit seinem Sein mitgegeben. Den Menschen seines Wertes zu würdigen heisst, seine Würde anzuerkennen, sie so zu sehen, sie immer im Blick zu haben. Diese Würde nicht im Blick zu haben, ist einer der aggressivsten Akte, den ein Mensch einem anderen zufügen kann.

3.13.7. Da der Mensch sich nicht selbst schaffen kann, ist seine Existenz immer widerfahrende, erleidende Existenz, die vom Sinn ergriffene, was seinen Wert ausmacht. Die Herausforderung der Widerfahrnisse von "leben" ist, das Erlittene umzuwandeln in Erlebtes; dies Zu-ge-sollte macht seine Stärke aus.

3.13.7.1. Der "Griff" der Gelebigkeit nach ihm, seine Lebendigkeit selbst - alles ist erlitten. Die Geburt hinein in Raum und Zeit ist erlittene Geburt; das Hineingestellt-sein in Raum und Zeit ist etwas, was er erleidet. Die Freiheit seiner Entscheidung ist nun die Voraussetzung dafür, dass er dennoch immer auch der Mitgestalter der Widerfahrnisse von "leben" ist.

Widerfahrnisse von "leben" verwirklichen sich im Umgang, sie wirken Umgang und sind darin Wirklichkeit. Sie äussern sich in Gestalt von etwas, und das wiederum ist Folge des Umgangs.

Wir erkennen: Jeder Mensch einer Gemeinschaft intendiert das Seine im Einlassen auf eine vereinbarte Sache. Gemeinschaft ist ein Effekt von Umgangsweisen, die Folge gleicher Engagements sind.

3.13.7.2. Der Mensch gestaltet Erfahrung im Umgang mit Wirklichkeit und beantwortet dadurch die Frage, was denn von ihm zu erwarten sei. Sein Umgang ist also (ver)antwortlicher Umgang, eben wegen seiner Entscheidungsfähigkeit. Und die Gestalt gewordene Entscheidung offenbart seine Stellungnahme zu den Widerfahrnissen von "leben" selbst und zum Gegenüber seines Umgangs (wobei das Gegenüber auch ein Ding sein kann).

3.13.7.3. Die Fähigkeit, Erlittenes in Erlebtes umzuwandeln, ist allein menschliche Fähigkeit; sie ist aber auch seine Aufgabe, die mit der Herausforderung der Widerfahrnisse von "leben" und mit seiner Freiheit mitgegeben ist.

Der Mensch hat die Aufgabe, Erlittenes in Er-lebtes umzuwandeln; also erlittene Begegnung in erlebte Begegnung, erlittene Zeit in erlebte Zeit usf. Das Erlittene wird dann er-lebt, sozusagen er-arbeitet, er-worben. Und das ist die Leistung, zu der allein der Mensch fähig ist. Die Entscheidung dazu ist ihm von vorneherein eigen; wie uns die Embryologie lehrt: bereits im Mutterleib.

3.13.7.4. Der Mensch ist Mensch und der per effectum Entstandene. Der Effekt ergibt sich für jedes menschliche Individuum aus der geglückten Begegnung von Oozyte und Spermium (auch "Befruchtung" genannt): einer speziellen Oozyte durch ein zu ihr passendes Spermium.

Der Effekt dieses Sachverhaltes ist das Entstandensein eines neuen menschlichen Individuums: Es ist nur mit sich selbst identisch und deshalb gegenüber allen je gewesenen, je seienden und je noch werdenden menschlichen Individuen unterschieden und deshalb unterscheidbar. Diesen Tatbestand nenne ich die Primäridentität des Menschen.

Eine "zufällige" Ähnlichkeit bei Seeigeln bestätigt biologisch und biochemisch Interessierten diese These par exellence: "mRNA-Maskierung"

Seit dem vorigen Jahrhundert ist bekannt, dass die frühere Embryonalentwicklung, etwa beim Seeigel, fast ausschliesslich von Informationen gesteuert wird, die in der Eizelle bereits vor der Befruchtung angelegt sind. Tatsächlich beeinflusst Actinomyxin D (...) in Mengen, die die RNA-Synthese inhibieren, die DNA-Synthese jedoch nicht blockieren, die frühen Entwicklungsstadien eines Seeigel-Embryos. Das unbefruchtete Ei enthält nämlich bereits grosse Mengen mRNA, die durch assoziierte Proteine 'maskiert' ist, um den Kontakt mit ebenfalls vorhandenen Ribosomen zu verhindern. Bei der Befruchtung wird diese mRNA auf kontrollierte Weise 'demaskiert', die Proteinsynthese beginnt. Die Embryonalentwicklung kann also sofort nach der Befruchtung beginnen, ohne auf väterliche mRNA angwiesen zu sein.

Auch viele Eukaryonten-Zellen enthalten im Cytoplasma grosse Mengen Protein-komplexierter mRNA, die nicht mit Ribosomen assoziiert sind. Noch ist jedoch unklar, ob mRNA-Maskierung auch für Translationskontrolle in nichtembryonalem Gewebe in Frage kommt" (Voet, Daniel/Voet, Judith G.: "Biochemie", S.940, 1992).

Dieser Effekt induziert die Fortsetzung der zweiten Reifeteilung, die selbst also ein Effekt ist. Er ergibt sich logisch aus dem vorlaufenden Effekt: der geglückten Begegnung von Oozyte und Spermium ("Befruchtung").

Nach Beendigung der zweiten Reifeteilung hat sich das System der somatischen Ausbildung in Hinblick auf das Wachstum stabilisiert. Das Individuum entwickelt sich selbst im Hinblick auf die Fähigkeit zur Einnistung. Diesen Effekt nenne ich das Gewordensein des Selbst des Individuums.

Die Einnistung der Oozyte ist also bereits der Augenblick im "leben" eines Menschen, in dem er zu einem Nehmenden und Gebenden geworden ist.

Der Wachstumsvorgang des Individuums führt im 6. Schwangerschaftsmonat zu dem Effekt, dass das Selbst des Individuums sich so verselbständigt, dass es seine endokrine (die innere Sekretion betreffende) Versorgung in selbstiger Intention reguliert. Das Selbst hat sich zur Person entwickelt. Die Äusserungen der Person widerfahren ihr als eigenes "wollen".

3.13.7.5. Der Mensch erlebt Zeit nur in der Aktualisierung und in der Aktualität des Augenblicks. Dadurch ist erlebte Zeit für ihn der Zusammenhang solcher Augenblicke. Er vermag nicht, Zeit zu denken; doch er vermag, im Augenblick ihren Sinn zu erkennen. Deshalb spreche ich davon, dass der Mensch hineingeboren wird in die Weite des "lebens", die er selbst nur dreidimensional, also räumlich denken kann.

3.13.7.6. Diesen Raum, in den er hineingeboren wurde, für sich zu gestalten, sozusagen mit sich einzurichten,, das ist die Aufgabe des Menschen im Hinblick auf die Annahme der Gegenwart. Und wieder: die Fähigkeit zu dieser Entscheidung dazu ist ihm eigen (widerfährt ihm als eigene Möglichkeit). Die Umsetzung dieser Entscheidung in die Tat wird möglich durch die gehirnphysiologisch dargebotene Freiheit (Gyrus fasciolaris) und Geborgenheit (Gyrus dentatus). Beides lässt den Menschen hinausweisen über sich selbst, auf die nächst höhere (Sinn-)Ebene (sensomotorische Kopplung), die ich die 4.Dimension nennen will. Geborgenheit wollen wir eben auch verstehen als ein Fühlen dessen, dass Gegenwärtiges hineingeborgen wird in die Vergangenheit, Zukünftiges hineingeborgen werden wird in Vergangenheit und der Mensch sich dabei offenbart als jemand, der selbst geborgen ist in dem, was alle Zeit überschreitet, die in der Gegenwart erfühlbare Aufhebung von Zeit (siehe das genuine Gefühl Ewigkeit, das eben genau dies vermittelt: das Zentrum des Seindürfens).

Das Wissen um die Dimension menschlicher Entscheidungen kann verkehrt werden in die Schuldfrage, die dann Entscheidungsfähigkeit blockiert und Erkenntnis verhindert. Sie ist ein gewalttätiger Gegner der Sinnfrage.

Die Schuldfrage tut so, als sei Vergangenheit änderbar durch Sühneakte, als hätte Verhalten nicht bloss die logischen und natürlichen Folgen zu tragen. Die Schuldfrage "warum" fordert eine Erklärung, eine Recht-fertigung. Die Sinnfrage fragt "wie" (bin ich hineingeraten? wie ist es geschehen?) und lässt die Zusammenhänge von Umgang und entstandenen Effekten so im Denken zu, dass sie erkannt und für die Zukunft wirksam werden können.

3.13.7.7. Lösen wir uns von den Begriffen "erlitten" und "erlebt", so kann der Inhalt nur noch durch die Begriffe "geben" und "nehmen" wiedergegeben werden. Das "leben" gibt, der Mensch nimmt: die Widerfahrnisse von "leben" annehmen zu wollen, ist schon eine "Leistung", die der Mensch vollbringt. Sie ist überhaupt die Leistung, die allen anderen möglichen Leistungen vorausgeht (sie schliesst dann auch die Leistung ein, die Fähigkeit zu sterben anzunehmen). Der Annahme folgt sodann Hingabe; denn "leben" heisst, sich am "leben" beteiligen, Teil des "lebens" sein zu wollen.

Die Aufgabe des Menschen besteht also darin, Erlittenes, Widerfahrenes, Gegebenes umzuwandeln in Annahme und Hingabe; also das Erlittene, Widerfahrene, Gegebene sich zu er-leben, zu erfahren.

3.13.8. Mit der Einzigartigkeit, der Unverwechselbarkeit und Einheit und Ganzheit des Menschen ist auch seine natürliche Einsamkeit gegeben, die an seinem ganz und gar individuellen Richtigsein als Mensch haftet.

3.13.8.1. Einzigartigkeit und Einsamkeit sind wie die beiden Seiten einer Medaille: eines ist nicht ohne das andere. Jeder Mensch ist für sich einzigartig, eins und ganz und darin immer anders als andere Menschen.

Der Begriff einsam ist also in keiner Weise negativ zu verstehen; er ist vielmehr positiv, beschreibt er doch die Position eines Menschen gegenüber allen anderen. Er ist genausowenig negativ wie die entsprechenden Wortbildungen "heilsam", "wundersam" o.ä.

3.13.8.2. Die Umwandlung des Wissens um die Einsamkeit in den Gedanken des Alleinseins oder des Alleingelassenseins ist ein aversiver Vorgang. Denn ohne das Wissen um die eigene Einsamkeit kann der Mensch auch kein Wissen um seine selbstverständliche, wertfrei zu verstehende Einzigartigkeit, seine Richtigkeit als Mensch, erlangen. Und beides ist wieder wichtig für das Wissen um Wert und Würde.

Das Wissen um diese Einsamkeit hat der Mensch nicht von vorneherein verfügbar. Er muss es sich er-werben. Bei diesem Vorgang kann er gestört werden durch den Einfluss seiner Umgebung.

I.3.13.9. Alles, was ein Mensch in seinem Erleben je mit seinen Sinnen wahrgenommen hat, bleibt ihm als Erfahrung oder Eindruck erhalten. Um des ökonomischen Gebrauchs seiner Dynamik willen ist ihm aber nicht alles verfügbar.

Die Gesamtheit dessen, was dem Menschen verfügbar ist, nennen wir das Bewusstsein. Die Gesamtheit dessen, was ihm zu einem gegenwärtigen Zeitpunkt nicht oder nicht mehr zur Verfügung steht, nenne ich das Unterbewusste. Mit beiden gestaltet der eine Mensch sein "leben".

In der geistigen Dimension spreche ich vom Unterbewussten (oder besonders betont: vom Unterbewussten des Geistes, das in den Areae 47 und 11 des Frontalhirns gespeichert ist). Meine ich die seelische Dimension, spreche ich vom Unterbewussten der Seele (im Gyrus parahippocampalis). Mit dem Unterbewussten des Körpers bezeichne ich die Gehirnregion des Hirnstammes, in der alles Unwillkürliche organisiert wird. Mit dem Unbewussten bezeichne ich abstrakt das Zusammenwirken aller unterbewussten Dimensionen.

3.13.9.1. Der Mensch ist der Mitgestalter seiner Widerfahrnisse von "leben", bewusst und unbewusst. Wie sehr das Unbewusste daran beteiligt ist, fällt ihm meist erst dann auf, wenn er sich fragt, wieso er dies oder jenes überhaupt habe tun können; wieso er dies oder jenes tue, obwohl er es doch eigentlich gar nicht wolle.

3.13.9.2. Hinter beidem ist jedoch immer die Entscheidung der einen Person am Werk. Die Einheit der Person und ihre Ganzheit bleiben bestehen.

3.13.9.3. Die Ausbildung des Bewusstseins und die Möglichkeit, mit erworbenem Wissen und erworbenen Fähigkeiten logisch umzugehen, geht einher mit dem Spracherwerb.

3.13.9.4. Das Unterbewusste wird zuerst durch nervale Impulse der sinnlich wahrgenommenen Eindrücke ausgebildet. Ab etwa dem 8.Monat nach der Geburt kommen dann, vor allem durch Verdrängung in das Unterbewusste des Geistes, verbalisierfähige Impulse dazu. Der Inhalt des Unterbewussten besteht also aus Eindrücken und Wahrnehmungen, die das Überleben sichern sollen, und aus dem, was der Mensch aus dem Bewusstsein drängt, also ins Unterbewusste des Geistes verdrängt.

3.13.9.5. Die dem Menschen im Geist unterbewusste (aber von ihm erarbeitete) Lebenseinstellung bestimmt dann, was das Unbewusste evtl. wieder an das Bewusste zur Verfügung stellt.

3.13.9.6. Jene Phase von der Zeugung bis zum Erwerb der Möglichkeit des logischen Denkens durch ausreichende Sprachbeherrschung nenne ich die vorlogische Phase. Sie dauert im Normalfall bis etwa zum 8.Jahr nach der Geburt.

Ich unterteile sie in die pränatale Phase (von Zeugung bis zum sechsten Schwangerschaftsmonat), die perinatale Phase (um die Geburt, vom 6.Schwangerschaftsmonat an bis etwa zum 8.Monat) und die postnatale Phase (bis zum Ende der vorlogischen Phase, etwa dem 7./8.Jahr nach der Geburt).

3.13.9.7. Durch Aufdeckung der nicht bewussten Lebenseinstellung kann Unterbewusstes ebenfalls bewusst gemacht werden, vor allem auch das, was das Unterbewusste des Geistes an der Bewusstwerdung hindert.

Der Mensch braucht um des ökonomischen Umgangs mit seiner Dynamik willen Sperren zwischen Unbewusstem und Bewusstem. Wir würden handlungsunfähig, müssten wir in jeder Sekunde unseres "lebens" alle Entscheidungen immer oder auch immer wieder bewusst fällen. Wo die Sperren sich jedoch befinden und wie sie wann arbeiten, das hat der Mensch seit der Heranbildung seiner Lebensanschauung selbst mitentschieden. Seine Lebensanschauung bildet sein Lebenskonzept, nach dem er leben will. Beides zusammen nenne ich das unterbewusste System, das sein Zentrum im Frontalhirn, also im Unterbewussten des Geistes hat.

3.13.9.8. Da es trotz aller Unterschiedenheit der Menschen in den Inhalten und Aussagen von Lebensanschauungen und Lebenskonzepten auch Übereinstimmungen gibt, gebrauche ich für die Beschreibung von Lebensanschauung und Lebenskonzeption den Begriff Lebensstil.

Der Begriff "Lebensstil" wird in der Individualpsychologie von Alfred Adler benutzt, um mit ihm zum Ausdruck zu bringen, dass alle Handlungen, Gedanken und Gefühle eines Menschen immer Ergebnis seines Lebenskonzeptes sind, das mit einem unterbewussten Ziel der persönlichen Überlegenheit über andere ausgestattet ist. Ich halte dies für eine unzulässige Engführung des Sachverhaltes, wie sich aus dem Zusammenhang dieses Buches ersehen lässt. Dennoch verwende ich diesen Begriff und will damit die Entdeckung A. Adlers respektieren.

Ähnliche Lebensstile fasse ich zu Lebensstilarten zusammen, die ich in einem Lebensstilbild auf den Begriff bringe. Vom Wissen über das, was mit dem Lebensstilbild gemeint ist, schreite ich vor zum ganz und gar individuellen Lebenskonzept eines Menschen. Nur so lässt sich "das Problem der grossen Zahl" lösen.

Es gibt typisierbare ähnliche Verhaltensweisen, die zu einem Lebensstilbild gehören. Ich spreche dann von "typischen" Verhaltensweisen oder Merkmalen. Sie helfen jedoch nur, um zum Verständnis des individuellen Lebenskonzeptes zu gelangen.

Die Benutzung der Theorie von den Lebensstilbildern ist nur auf der Basis des bisher Gesagten möglich; für sich, abstrahiert benutzt, würde diese Theorie zu einer unzulässigen Vereinfachung und damit zu falschen Ergebnissen führen.